Rüstung

Traumland des Todes

[Der Spiegel (Germany), Mid-April 1995 (#16)]

SPIEGEL-Redakteur Joachim Hoelzgen über die Experimente auf dem geheimsten Militärstützpunkt der USA

Das Tikaboo Valley in der Wüste von Nevada ist so abgelegen, daß kein Schild den Weg weist. Die Schatten der Trucks, die hier ohne Halt durchfahren, gleiten einsam ans Ende des Horizonts, vorbei an Gestrüpp und mannshohen Kakteenbäumen.

Glenn Campbell, 35, hat sich auf die abweisende Landschaft eingestellt; er hat eine Art Baedeker über sie geschrieben. Seine Beobachtungen trägt er in Rachel zusammen, dem einzigen Ort am Asphaltband der State Route 375.

In Rachel ist ein Schleier des Geheimnisvollen spürbar, der Bedrohung einschließt. Jenseits der Berge, die das weite Tal begrenzen, befindet sich ein rätselvoller Stützpunkt, den noch niemand in seiner ganzen Ausdehnung erblickt hat. Manchmal steigt dort in der Dunkelheit ein grelles Leuchten an den Bergflanken empor, die dann aussehen wie die Klarsichthüllen einer kalten Zukunft und Phantastik. "Ich habe hier alle und alles gesehen", berichtet Campbell, "Exzentriker, Paranoide und Leute, die glauben, von fliegenden Untertassen entführt worden zu sein."

Zuletzt hat das Ehepaar Hamilton behauptet, am Kiesparkplatz beim Meilenzeichen 32,3 sei ihm eine unheimliche Begegnung widerfahren. Die Hamiltons wollen sich an eine gleißend helle Scheibe erinnern und an den Namen eines Ufo-Kommandanten: Quaylar.

Vor drei Jahren ist Campbell von Boston, wo er Programmierer war, nach Rachel gezogen. Sein Wohnwagen ist mit Computern vollgestellt. Suchscanner gestatten es ihm, die Funkkanäle in diesem Teil Nevadas abzuhören.

Campbell kann jede Begebenheit erklären: Der große schwarze Fleck beim Kiesparkplatz etwa war nicht eine Untertassen-Aufsetzspur, wie manche in Rachel vermuteten, sondern Schauplatz eines Fahrzeugbrands. Der Sattelschlepper eines Panzers hatte während der Fahrt Feuer gefangen; auf dem Anhänger glühte der stählerne Koloß aus.

Es ist nicht verwunderlich, daß das Militär die meiste Zeit Campbells beansprucht. Denn das Tikaboo Valley ragt wie ein Dorn in die Flanke großer Übungsplätze, die hier konzentriert sind. Im Westen befinden sich das Atomversuchsgelände Yucca Flats und ein Teil des Übungsplatzes Nellis Bombing and Gunnery Range. Im Norden dehnt sich der Stützpunkt Tonopah aus, der vor Beginn des Golfkriegs nie zuvor gesehene Flugzeuge erhielt: Tarnkappenbomber vom Typ F-117A, die dank einer Spezialglasur Radarwellen verschlucken.

Alles in allem hat die US-Luftwaffe ein Sechstel Nevadas als Waffenreservat für sich abgesperrt, eine Fläche größer als Bayern.

In der Holzbar von Rachel, dem "Little A'Le'Inn", trinken Cowboys am Abend ein kaltes Bier. Womöglich müssen sie noch in der Nacht ausrücken, um Buschbrände zu löschen. Draußen stoßen Jagdmaschinen "flares" aus, pyrotechnische Scheinziele, die im Ernstfall feindliche Raketen irritieren sollen und nun feurig herabregnen.

Glenn Campbell hält nichts davon, Zaungast bei den Top-Gun-Manövern der US-Luftwaffe zu sein. Er versteht sich als Kundschafter. Beharrlich observiert er einen Stützpunkt, der jenseits der Groom Range am Trockenbett des Salzsees Groom Lake liegt.

Die Betreiber dieser Anlage versuchen das Äußerste, um sie vor den Blicken Unbefugter abzuschirmen. Sie kommt nicht einmal auf den Karten des U. S. Geological Survey vor, die das Gebiet südwestlich von Rachel als "unsurveyed" bezeichnen, als nicht vermessen. Der Stützpunkt besitzt keinen offiziellen Namen. Campbell nennt ihn Area 51 - anhand eines Plans aus einer Zeit, als in einem Bergwerk nahe Rachel Wolframlager ausgebeutet wurden.

In seinem Trailer gibt Campbell eine Zeitung zum Thema heraus, die Groom Lake Desert Rat, gespickt mit Sonderinformationen. Als mutmaßliche Eigentümerin der mysteriösen Installation erhält die Air Force ein Freiexemplar.

Campbell hat in den Bergen der Groom Range einen neuen Aussichtspunkt auf öffentlichem Land entdeckt: den Freedom Ridge, einen 1600 Meter hohen Höcker neben dem Kegel des White Sides Peak. Von beiden Plätzen bietet sich ein Blick auf das abgekapselte Gebiet jenseits der Berge. Doch mit den Patrouillen "an unserer Berliner Mauer", wie Campbell die Grenze zum militärischen Sperrbezirk nennt, ist nicht zu spaßen. Die Wächter machen mit Hubschraubern gelegentlich auch Jagd auf Berggänger, die das verbotene Areal gar nicht betreten haben. Die Helikopter schweben herab und haben Campbell schon wie eine Backform in den Sand gepreßt.

Die Fahrt zum Freedom Ridge führt zunächst über die Staatsstraße zum schwarzlackierten Blechbriefkasten des Ranchers Steve Medlin, der die Wasser- und Weiderechte am Fuß der Groom Range besitzt. Campbell stoppt den Geländewagen in einem Kakteenwald. Der Boden wirkt hohl und von seltsamen Gängen durchzogen. Hinter einer Pflanze steht ein grauer Zylinder aus Metall. Von dem Behälter gehen zwei Kabel aus und verschwinden im Boden. Es sind Sensoren, die auf das Magnetfeld eines vorbeifahrenden Wagens ansprechen.

Knapp unterhalb des Bergrückens markiert ein futuristisch anmutendes Arrangement die Sperrzone: Kugeln aus nichtrostendem Stahl, die auf Aluminiumpfähle montiert sind. Niemand kennt die Funktion der Kugeln. Daneben warnt ein Schild mit roter Schrift: "Use of Deadly Force Authorized".

Der Stützpunkt ist 16 Kilometer vom Freedom Ridge entfernt und wirkt wie ein zartes Luftgebilde. Ockerfarbene Betriebsgebäude sind erkennbar, Treibstoffkessel im feinen Dunst, daneben der turmhohe Trichter einer Satellitenantenne. Klar zeichnet sich der sogenannte Hangar 18 ab. Er ist so hoch, daß eine Boeing 747 mit einer Weltraumfähre auf dem Rücken in ihm Platz fände.

Eine Landebahn, 3,5 Kilometer lang, endet am Becken des Groom Lake, in dem das Wasser des Winterregens noch nicht ganz verdunstet ist. Parallel zu dieser Piste erstreckt sich die längste Landebahn der Welt. Sie ist 9,6 Kilometer lang und reicht bis zum anderen Ufer des Salzsees.

Der Blick durch das Teleobjektiv fällt wie durch ein Vergrößerungsglas in die Zeit des Kalten Kriegs zurück. Der Rüstungskonzern Lockheed hat hier schwarze, vom Kongreß in Washington kaum kontrollierbare Spionageprogramme entwickelt und war neben dem US-Geheimdienst CIA der eigentliche Hausherr am Groom Lake - und womöglich sind es Lockheed und die CIA noch heute.

1954 startete auf der damals noch einzigen Piste die erste U-2, ein Höhenaufklärer. Der Rumpf der Maschine war in den berühmten Skunk Works von Lockheed am Flughafen von Burbank in Los Angeles gebaut und im Bauch eines Transportflugzeugs zum Groom Lake geflogen worden.

Alles habe unter einem "Schirm der Geheimhaltung" geschehen müssen, heißt es in einer Festschrift zum 50jährigen Bestehen Lockheeds; die Air Force habe als "Front" vorgeschoben werden müssen, da der Auftrag zum Bau der U-2 und die Piloten von der CIA kamen. Die Piloten galten als "Fahrer", die U-2 als "Forschungsflugzeug" und der Stützpunkt am Groom Lake als "test location".

Am 1. Mai 1960 beschwor der Abschuß einer U-2 über Swerdlowsk eine Weltkrise herauf, doch Lockheed und die CIA stachelte das Mißgeschick nur noch mehr an. Als nächstes wurde die A-12, ein Monster mit 3,2facher Schallgeschwindigkeit, auf dem Testgelände flügge - mit Triebwerkseinlässen, die einen größeren Durchmesser besaßen als der Rumpf der Maschine. Die A-12 spähte Nordvietnam aus und überflog das Land in nur zwölfeinhalb Minuten.

Als Monument des Kalten Kriegs weist die Basis keine Sprünge auf. Sie wuchert sogar weiter; neue Hangars sind errichtet worden, darunter ein langes Betondach, unter das Flugzeuge gerollt werden, wenn russische Aufklärungssatelliten am Horizont aufsteigen.

Bis zu 1500 Arbeiter und Techniker werden von einem Sonderterminal des Flughafens Las Vegas aus zur Tag- und Nachtschicht an den Groom Lake transportiert. Auf dem Vorfeld stehen Boeing-737-Maschinen, die außer einem roten Streifen in Höhe der Kabinenfenster keine Markierungen aufweisen. Die Passagiere werden im Abfertigungsgebäude identifiziert und von Sicherheitsbeamten zu den Flugzeugen gebracht.

Die Scanner-Scouts von Rachel haben die Funkfrequenz des Kontrollturms hinter den Bergen und die Kennung der von Las Vegas anfliegenden Jets ermittelt: "Janet". Die Janet-Piloten melden sich bei einem "Traumland" (261,1 Megahertz) und manchmal bei einer "Schweinefarm" oder der "Wasserstadt".

Die Portale der Flugzeughallen von Groom Lake sind nur nachts geöffnet. Halogenlicht dringt dann aus den Hangars und erzeugt die Illusion von einer schwerkraftlosen Welt.

Die Umtriebe am Trockenbett des Groom Lake sind Experten ein Rätsel. Der Fachautor Bill Sweetman vermutet, daß ein hyperschnelles Spionageflugzeug mit achtfacher Schallgeschwindigkeit erprobt werde: "Aurora", eine Art Kreuzung zwischen Düsenmaschine und Rakete, betrieben mit flüssigem Methan. Aurora könnte in drei Stunden jeden Punkt der Erde erreichen.

In Rachel wird auch spekuliert, ob hinter den Bergen eine zerstörerische Schallwaffe getestet werde, ähnlich jener, von der Wladimir Schirinowski, der rechtsradikale Russe, schwadroniert hat. Man will auch nicht ausschließen, daß auf dem Stützpunkt ein Atombomben-Notvorrat lagert; von infamen Experimenten an verschwundenen Kindern ist die Rede - und natürlich von fliegenden Untertassen.

Im schummrigen Little A'Le'Inn, dessen Name das Wort "alien" lautmalerisch wiedergibt, hat schon mancher den harten Boden der Wirklichkeit verlassen. Der Stammgast Chuck Clark, ein Hobby-Astronom aus Vandenberg in Kalifornien, mutmaßt, auf dem Stützpunkt verkaufe die Air Force Borax und Arsen an Ufo-Besatzungen, die auf solche Stoffe angewiesen seien.

Guru der Ufologen ist Bob Lazar, ein Physiker. Lazar behauptet, daß es inmitten des Sperrgebiets eine noch geheimere Basis mit unterirdischen Hangars gebe, auf der Forscher insgesamt neun Ufos untersuchten. Er selbst habe Ende der achtziger Jahre am Antrieb eines unbekannten Flugobjekts gearbeitet. Als Beleg legt Lazar Gehaltsstreifen der Regierung vor.

Dem Streifzug durch die Irrungen menschlicher Phantasmen in der Ufo-Bar entspricht ein kafkaesk anmutender Vorgang im fernen Washington.

Am 28. Februar hat Sheila Widnall, die Luftwaffenministerin der USA, Amerikas umfassendste Geheimhaltungsvorschrift - das Military and State Secrets Privilege - erlassen, um Fragen nach dem Groom-Lake-Stützpunkt abzuwehren. Die Verbreitung einschlägiger Informationen und selbst die Verwendung von fiktiven Namen wie Traumland oder Schweinefarm sollen unter Strafandrohung gestellt werden. "Man muß davon ausgehen", meint die Ministerin, "daß sonst die nationale Sicherheit der USA schwerstens gefährdet wird."

Wie die Ufologen, so scheint es, hat sich die Air-Force-Ministerin eine Wirklichkeit geschaffen, die dabei ist, auseinanderzufallen. "Genausogut könnte man den Namen Weißes Haus zur Geheimsache erklären", sagt Jonathan Turley, 33, ein Groom-Lake-Spezialist der rationalen Art.

Turley ist Rechtsprofessor an der George Washington University und bearbeitet vor allem Umweltdelikte. Er führt zwei Prozesse gegen die US-Regierung, weil der Stützpunkt in Nevada noch einem anderen Zweck dient: Die Basis ist eine geheime Giftmüllzentrale, auf der exotische Harze, Lacke und Lösemittel verbrannt werden.

Die Chemikalien, so bekunden Turleys Zeugen, stammen aus den Lockheed-Skunk-Works und waren zur "test location" gebracht worden, wo man sie in offenen, 100 Meter langen und 4 Meter tiefen Gräben deponierte.

Arbeiter präparierten gleich mehrere Schichten des giftigen Schlicks, rührten ihn mit Stangen um und versenkten auch noch Fässer in der Brühe. Danach wurde der unheimliche Cocktail mit Kerosin übergossen und angezündet. Am Groom Lake tobte dann immer das Inferno. Aus den Gräben stiegen Qualmwolken und stechende Gase, die Fässer explodierten, Rauchfahnen trieben bis zu den Landebahnen am Salzsee.

Die Entsorgung auf die schnelle geschah Mitte bis Ende der achtziger Jahre, als die Produktion des Tarnbombers F-117A auf Hochtouren lief. Die bizarr aussehenden Flugzeuge waren am Groom Lake erprobt worden und hatten dabei jene Fähigkeiten bewiesen, die sich später im Golfkrieg bei den Nachtangriffen auf Bagdad bewährten.

Turley vertritt sechs Arbeiter, die das Anti-Radarmaterial verbrannten. Atemschutzgeräte und Spezialbekleidung gab es beim Füllen und Abfackeln der Gräben nicht, selbst Handschuhe waren ihnen vorenthalten worden. Jetzt sind die Männer krank. Sie leiden an Leberkrebs und toxischen Ekzemen.

Ein siebter Arbeiter, der Blechschlosser Robert Frost, ist im November 1989 gestorben. "Sein Gesicht war angeschwollen wie ein Fußball, alles war rot, auf dem Rücken wucherten Geschwüre." So beschreibt Helen Frost das langsame Siechen ihres Mannes. Das Gift griff die Nerven an, es verursachte Muskelschwund und Krämpfe. Trotzdem pendelte der Familienvater weiter mit den Janet-Boeings zwischen Las Vegas und dem Groom Lake hin und her. Nur wenn in den Bohrlöchern von Yucca Flats eine Atombombe gezündet wurde, durften die Arbeiter zu Hause bleiben.

Helen Frost wohnt in einem adretten Haus im Nordwesten von Las Vegas, weit entfernt von dem Panoptikum menschlicher Schwächen und Begierden an den Kasino-Boulevards der Spielerstadt. Sie hat die Wohnküche in ein Büro mit Faxgerät und Personalcomputer verwandelt. "Ich werde nicht aufgeben, solange Jonathan Turley genug Stehvermögen hat", sagt sie.

Doch die gerichtliche Auseinandersetzung verläuft zäh. Das Umweltministerium in Washington behauptet, daß der Stützpunkt im Verzeichnis bundeseigener Liegenschaften nicht enthalten sei und deshalb nicht existieren könne. Damit ist auch ein Befund des Biochemikers Peter Kahn gleichsam fiktiv: Kahn ist Agent-Orange-Experte an der Rutgers University in New Jersey und hat in Gewebeproben Robert Frosts hohe Werte von Dioxin und Dibenzofuranen festgestellt.

Das Verbrennen von Giftmüll in offenen Gräben ist überall in den USA ein kriminelles Delikt. Als Verantwortliche hat Turley deshalb Verteidigungsminister William Perry, Sheila Widnall und den Nationalen Sicherheitsberater Anthony Lake, zuständig für die Geheimdienste, beim Bezirksgericht Las Vegas verklagt.

"Wenn sie den Namen des Stützpunkts mitteilen, würden sie dessen Existenz bestätigen - und damit, daß sie gegen das Gesetz verstoßen haben", beschreibt Turley das Dilemma der Regierung. Immerhin hat die Air Force zugeben müssen, in der Nähe des Groom Lake "eine Installation" zu unterhalten. Das kann Turley nicht genügen: "Was ist damit gemeint? Ein Parkhaus oder eine Snackbar?"

Vor allem der Verteidigungsminister kann in Schwierigkeiten kommen. William Perry hat als Pentagon-Staatssekretär seinerzeit die Entwicklung des Tarnbombers und der sogenannten Stealth-Technologie in Auftrag gegeben. Er muß befürchten, daß vor Gericht die Zusammensetzung der radarhemmenden Spezialbeschichtung bekannt wird.

Die Beschwörung des "Privilege" durch Sheila Widnall soll das verhindern. Sie geht aber noch weiter und hat das Innenministerium ersucht, den letzten Rest von öffentlichem Land am Freedom Ridge und White Sides Peak an die Air Force abzutreten. Damit wäre auch die letzte Sichtverbindung zu dem Stützpunkt abgeschnitten.

Gut möglich, daß sie dabei die Geographie Nevadas und die Ausdauer des Landeskenners Campbell unterschätzt. Vor kurzem hat er den 2300 Meter hohen Tikaboo Peak am Südende des Tals bestiegen. Der Tikaboo Peak ist eine mächtige Berggestalt und wirkt dank seiner Quarzadern wie mit einem Blitzableiter geerdet.

Der Gipfel ist 40 Kilometer vom Groom Lake entfernt - und bietet einen prächtigen Rundumblick auf den Stützpunkt. "Man braucht nur starke Ferngläser", hat Campbell herausgefunden.

DER SPIEGEL 16/1995 - Vervielfältigung nur mit Genehmigung des SPIEGEL-Verlags